tibetische religiöse Kunst

tibetische religiöse Kunst
tibetische religiöse Kunst
 
Die Buddha-Gestalt weist im Götterhimmel des tibetischen Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus äußerst vielfältige Formen auf. Dies ist vor allem auf die Vergöttlichung Buddhas zurückzuführen, welche schon in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten während der Entfaltung des Mahayana-Buddhismus in Indien begann. Auch in der vor allem von Mahayana und Vajrayana geprägten religiösen Kunst Tibets entwickelten sich ganze Darstellungskomplexe, die ihn beispielsweise als Buddha der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft, der Himmelsrichtungen, der Heilkunst und auch als Buddha vergangener und zukünftiger Weltsysteme zeigen. Beliebt ist auch die Darstellung der »Acht Medizin-Buddhas« sowie die der »Sechs Buddhas der sechs Welten«. In der als ursprünglich betrachteten Lehre des historischen Buddha der Gegenwart, Siddharta Gautama, der wahrscheinlich um 500 v. Chr. gelebt hat, gibt es keine bildliche Darstellung der Person. Der Überlieferung nach hatte Buddha nur seinen Jüngern gestattet, sein Bildnis anzufertigen. Dahinter steht der Gedanke des Hinayana-Buddhismus, dass der Mensch sich nicht durch die Anbetung und damit Vergöttlichung Buddhas, sondern durch seine eigene Kraft, im Glauben an seine eigenen Fähigkeiten, die Möglichkeit eröffnen soll, ins Nirvana einzugehen.
 
Doch in der Folgezeit musste sich die buddhistische Gemeinde, der Sangha, gegen verschiedene andere religiöse Glaubensrichtungen in Indien behaupten; man meinte, durch die Vergöttlichung des Erleuchteten größeres Interesse für die buddhistischen Vorstellungen erwecken zu können. Daraus entwickelte sich eine idealisierende Darstellung, welche ihn unter anderem als Weltenherrscher, als »Vollendeter Buddha« zeigte. Buddha-Figuren wurden nun mit verschiedenen Charakteristiken versehen dargestellt, die man beispielsweise anhand der wechselnden Farben, der unterschiedlichen Hand- und Sitzhaltungen und aufgrund verschiedener weiterer Kennzeichen unterscheiden kann. Besonders seit dem 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. bei Entstehung der Mahayana-Lehre wurden auch Götter und Dämonen anderer Glaubensrichtungen als dem Buddhismus zugewandte Wesen verstanden und in den Götterhimmel miteinbezogen. Dies führte in der Folgezeit zu einer enormen Formenfülle, die die religiöse Kunst Tibets bis heute prägt.
 
Im tibetischen Buddhismus werden Buddhas und Bodhisattvas als Helfer des Menschen auf dem Weg zur Erleuchtung aufgefasst. Sie gelten als Personifikationen geistiger Kräfte, die man durch Mantras (Gebetsformeln) und Rituale aktiviert und damit zur Unterstützung auf dem Weg zur Erleuchtung gewinnt. In der Versenkung oder Meditation soll der Betrachter sich die entsprechenden Qualitäten der mit den Kultbildern oder Statuen dargestellten göttlichen Wesen vor Augen führen, sie verinnerlichen und sich selbst mit den entsprechenden Aspekten gleichsetzen. Die Welt besteht in der buddhistischen Vorstellung aus einer Zusammensetzung der fünf Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und leerer Raum beziehungsweise Äther. Im tibetischen Buddhismus entwickelte sich daraus eine Symbolwelt mit vielfältigen Erscheinungen. Die Elemente bilden etwa die Voraussetzung für die Gleichsetzung mit den fünf Himmelsrichtungen (Zentrum, Norden, Süden, Osten, Westen), den fünf Farben, den fünf Wissensarten und den »Fünf Vollendeten Buddhas« (Tathagatas). Die Zentralfiguren des tibetischen geheimen Buddhismus, die »Fünf Vollendeten Buddhas«, werden als mystische Erscheinungen verstanden.
 
Als Helfer und Beschützer auf dem Weg zum Nirvana genießen männliche und weibliche Bodhisattvas sowie bestimmte weibliche Gottheiten mit Bodhisattva-Charakter - die Taras - besondere Verehrung. Bodhisattvas verkörpern Buddhas helfendes Mitleid, die höchste buddhistische Tugend. Im Streben nach dem Absoluten, der Erlösung, hat ein Bodhisattva schon höchste Vollkommenheit erreicht, die es ihm ermöglicht, sofort ins Nirvana einzugehen. Jedoch verzichtet er zunächst darauf, damit er der leidenden und unerlösten Menschheit auf dem Weg der Erlösung helfen kann. Bodhisattvas vereinigen die höchsten Tugenden, sodass sie nicht mehr dem Kreislauf der Wiedergeburten verfallen können. Auf den, der Bodhisattvas und Taras in Gebeten verehrt, sollen deren Tugenden übergehen. Zu den wichtigsten, auch in der religiösen Kunst dargestellten Bodhisattvas gehören Avalokiteshvara, Manjushri und Vajrapani, die häufig auch als Dreiheit dargestellt sind. Sie haben die drei Grundübel des Buddhismus - Gier, Hass und Verblendung - aus sich getilgt. Stattdessen haben sie die drei Haupttugenden des Mahayana-Buddhismus - Liebe und Mitleid, Weisheit und Einsicht sowie Wille und Tatkraft - aus sich heraus entwickelt.
 
Die friedvollen göttlichen Wesen des Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus (Buddhas, Bodhisattvas und Tara) zeichnen sich in der Darstellung durch eine entspannte, gelöste Haltung und durch eine elegante, wohlproportionierte Erscheinung aus im Gegensatz zu den schrecklichen und grimmigen Gottheiten (Yidams, Dakinis, Dharmapalas). Bodhisattvas und Taras tragen fürstlichen Kopf- und Körperschmuck sowie kostbare Kleider. Ihr Haar ist meist zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt.
 
Die Yidams und Dakinis, Meditations- und Initiationsgottheiten, unterteilt man in friedvolle, grimmige und zornvolle Erscheinungen der »Fünf Vollendeten Buddhas«. Die in Statuen und auf Bildern dargestellten Initiationsgottheiten werden gleichzeitig als Verbildlichung eines bestimmten tantrischen Ritualtextes und als spirituelle Führer des Eingeweihten auf dem Weg zur Erleuchtung, dem tantrischen Pfad, verstanden. Sie haben die Buddhaschaft verwirklicht und stehen in der Stufenleiter des tibetischen Buddhismus über den Schutzgöttern, den Mahakalas und Dharmapalas. Der tantrische Pfad wird in vier große Klassen eingeteilt. Im Allgemeinen bestimmt der Lehrer die Übungen der vier Tantra-Klassen für seinen Schüler: Was jedoch für den einen - ob Lama oder Schüler - nützlich oder erlaubt ist, kann für den anderen schädlich und verboten sein. Die mit den tantrischen Ritualtexten verbundenen Gottheiten werden als geistige Führer des Einzelnen auf seinem Initiationsweg verstanden. Der Eingeweihte folgt einem rituell genau vorgeschriebenen Übungsweg und konzentriert sich dabei auf eine bestimmte mit ihm verbundene Schutzgottheit, den Yidam, welche ihm auch später stets als Leitbild dienen soll. Sowohl Buddhas und Bodhisattvas, als auch die speziellen Gottheiten dieser Tantra-Texte oder die Mahakalas können als Yidams eingesetzt werden. Buddhas und Bodhisattvas treten als Yidams jedoch nur in den beiden unteren Tantra-Klassen auf, in der dritten und vierten Stufe der Tantras werden die zornvollen Aspekte der Gottheiten visualisiert, was höchste Anforderungen an den Übenden stellt. Die vier Tantra-Klassen sind nicht nur ein allumfassendes Lernprogramm, sondern Stufen eines Initiationsweges, um die Vollkommenheit der Buddhaschaft zu erlangen. Die Führer auf diesem Weg gehören zu den kompliziertesten Gestalten des lamaistischen Götterhimmels, da sie eine Vielfalt von Kräften und Eigenschaften symbolisieren.
 
In den Lebensbeschreibungen einiger indischer Lehrmeister werden die Dakinis oft erwähnt. Sie gelten als Übermittlerinnen geheimen Wissens und übernatürlicher Fähigkeiten sowie als Beschützerinnen vor Gefahren. Neben den männlichen Yidam-Gestalten spielen auch diese weiblichen Initiationsgottheiten eine bedeutende Rolle. Sie sind die weiblichen Ergänzungen (Prajnas) der »Fünf Vollendeten Buddhas«. Die kultische Verehrung weiblicher Gottheiten, die Fruchtbarkeit und Segen spenden sollten und denen blutige Opfer dargebracht wurden, war in Zentralasien und auf dem indischen Subkontinent weit verbreitet. Doch erst nach dem Vordringen der Indoarier etwa seit 1500 v. Chr. wandelte sich die ursprünglich nicht patriarchal geprägte zugrunde liegende Sozialstruktur zu einer patriarchalen, in der die weiblichen Gottheiten nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Im Tantrismus sowohl hinduistischer als auch buddhistischer Prägung werden die weiblichen Gottheiten den männlichen als gleichrangige Partnerinnen zur Seite gestellt: Der Tantriker identifiziert sich mit dem männlichen und dem weiblichen Pol, ebenso wie er sich mit den friedvollen und zornvollen Aspekten der Gottheiten gleichsetzt - als Zeichen der Einheit dieser Gegensätze. Im tantrischen Buddhismus werden die Dakinis als Wesen verstanden, die eine ungeheure Verwandlungsfähigkeit besitzen; aus diesem Grund werden sie auch als »Luftwandlerinnen« bezeichnet, die in der irdischen, der unterirdischen und der himmlischen Welt zu Hause sind. Die Vorstellung von diesen drei Welten, in denen sich sowohl Geister und Götter als auch Dämonen befinden können, ist zum Teil auch im Volksglauben zu finden. Im tibetischen Buddhismus sind die göttlichen Wesen und Geister jedoch zu Begleitern auf dem Weg zur Erkenntnis geworden. Dakinis können sowohl als zornvolle Partnerinnen, eng verschlungen mit Yidams dargestellt werden oder, wie eine irdische Frau, als tantrische Partnerin eines Yogi erscheinen; ebenso können sie in Gestalt einer Hexe oder einer freundlichen Fee wirken und dargestellt werden, die plötzlich auftaucht und jederzeit wieder verschwinden kann, wenn ihre Hilfe nicht mehr benötigt wird.
 
Weitere in der tibetischen Kunst dargestellte Erscheinungen zornvoller Beschützer der Lehre sind die Mahakalas und Dharmapalas. In Tibet hatten alle Klöster und viele größere wichtige Gebäude eine Kapelle für die Schutzgottheiten, die jeweils einem ganz bestimmten Mahakala (=der große Schwarze, der große zornvolle Beschützer) unterstand. Die Zuweisung richtete sich nach der Schulzugehörigkeit des entsprechenden Klosters. Ein damit beaufragter Mönch führte täglich Rituale für die Schutzgottheit durch. Die Mahakalas zählen zu den Dharmapalas, doch haben sie in der Verwirklichung der Buddhaschaft bereits einen höheren Rang erreicht als jene.
 
Zu den rangniederen Schutzgottheiten gehören die Dharmapalas, die Beschützer des Dharma, der Lehre. Die Dharmapalas wurden aus der indischen Vorstellung sowie aus der vorbuddhistischen Zeit Tibets übernommen. Hinsichtlich ihres Ranges gibt es sehr deutliche Unterschiede. Die Aufgabe aller Mahakalas und Dharmapalas ist es, besondere Hindernisse, die den Meditierenden vom Erreichen seines Zieles abhalten, zu beseitigen und ihn vor Rückfällen zu schützen. Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit ihrer Erscheinungen und damit ihrer Darstellungen hat nicht nur historische Gründe, sondern erklärt sich auch aus der Vielfalt der Bedürfnisse der Meditierenden sowie aus den Erfahrungen der tantrischen Praxis. Auch bei äußeren, weltlichen Schwierigkeiten erbittet der Gläubige den Beistand der Dharmapalas.
 
Lokapalas und Norlhas gehören zu den rangniederen Gottheiten des lamaistischen Götterhimmels und werden hinter den Dharmapalas eingereiht. Sie werden als Richtungs- und Reichtumsbeschützer (die »Vier Großen Weltenwächter«) und Reichtumsvermehrer aufgefasst. Grundsätzlich sind sie im Vorhof zur großen Versammlungshalle im Tempelbereich abgebildet. Im Allgemeinen werden sie nur angerufen, um vor äußeren Gefahren zu schützen und um weltliche Güter zu erbitten. Auch hier gibt es eine Unzahl von göttlichen Wesen, die sich durch charakteristische Farben, Haltungen, Attribute und einen bestimmten Wohnsitz im Universum auszeichnen.
 
Ihre eigentliche Aktualität im Kult erhalten die Kunstwerke des tantrischen tibetischen Buddhismus erst in dem vor ihnen ausgeführten Ritual. Aus diesem Grund wird auch den in den Zeremonien benutzten Geräten und Instrumenten besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Man legt großen Wert auf reiche Gestaltung und Verzierung; so entstanden besonders im 7. und 8. Jahrhundert, mit dem Einzug des tantrischen Buddhismus in Tibet, Meisterwerke des Kunsthandwerks. Aus den umgebenden Nachbarländern strömten Künstler und Handwerker in die Hauptstadt Lhasa, um dort Handwerks- und Malwerkstätten zu gründen.
 
Dr. Susanne von der Heide

Universal-Lexikon. 2012.

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